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Wie Schüler*innen in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt in den Berufsalltag reinschnuppern

Schule meets Betrieb

Der Gedanke hinter diesem Projekt mag dem einen oder anderen noch aus DDR-Zeiten bekannt vorkommen, wo man es Unterrichtstag in der Praxis (UTP) nannte. Hier hatten Schüler*- innen die Möglichkeit, ihr theoretisches Wissen in einen Betrieb einzubringen und es um den praktischen Bezug zu erweitern. Nicht selten sind daraus Ausbildungsverträge entstanden. Einer der maßgeblichen Unterschiede zum heutigen Modell ist jedoch, dass die jungen Leute inzwischen ihren Betrieb bzw. ihre Einrichtung frei auswählen können. 

Fusion von Schule und Arbeitswelt 

Es war das Schuljahr 2019/ 2020, als das Bildungsministerium in Sachsen- Anhalt den Praxislerntag einführte. Seitdem, erläutert Josefine Hannig, Pressereferentin und stellvertretende Pressesprecherin des Ministeriums, sei die Anzahl der teilnehmenden Schulen in Sachsen-Anhalt kontinuierlich gestiegen und stünde aktuell bei 59 Schulen. „Durch die Stärkung des eigenverantwortlichen und eigenständigen Lernens streben wir an, die intrinsische Motivation der Schülerinnen und Schüler zu fördern, um so den angestrebten Schulabschluss erfolgreich zu erreichen“, erklärt Hannig. „Bei den Praxislerntagen werden Schule und Arbeitswelt frühzeitig und zielgerichtet miteinander verbunden, um Schulabsentismus und das Verlassen der Schule ohne einen ersten anerkannten Schulabschluss zu verhindern.“

Motivation auch für Lehrkräfte 

Die Ausgestaltung des Praxis- modells ist von Schule zu Schule unterschiedlich und richtet sich nach den individuellen Gegebenheiten des jeweiligen Standorts. Findet der Praxistag vielerorts alle zwei Wochen statt, gibt es ebenso Schulen mit einem wöchentlichen Rhythmus, wie beispielsweise die Ostschule im thüringischen Gera. Neben dem Praxisbezug, den Schüler*innen gewinnen, sieht Matthias Herzer, Lehrer an der Ostschule, noch einen weiteren positiven Aspekt: „Dass wir all unsere Schüler- innen und Schüler nach ihrem Schulabschluss in eine adäquate Ausbildung entlassen können, ist für uns als Kollegium ein großer Motivator für den Tag in der Praxis.“

Strukturierter Schulalltag trotz Personalmangels 

Einen nicht unwesentlichen Aspekt beschreiben Claudia Päckert, Schul- leiterin, und Jörg Nestler, Praxisberater an der Oberschule des Bildungs- zentrums Adam Ries, Annaberg-Buchholz in Sachsen: „In den letzten Jahren haben wir beobachtet, dass aufgrund des zunehmenden Personalmangels im Bildungssektor die Qualität und Quantität des Unterrichts gelitten haben. Viele Stunden fielen aus oder konnten nicht adäquat besetzt werden, was zu Lücken im Lehrplan und einer unzureichenden Betreuung der Schüler führte.“ Mit dem Praxistag, so Päckert und Nestler, strebten sie einen strukturierten und sinnvoll ausgefüllten Schulalltag an.

Noten sagen nichts über Berufsausbildungsreife aus 

Wenn Schüler*innen an ihre Praxislernorte gehen, so wechseln sie diese in der Regel halbjährlich. Nach anderthalb Jahren kehren sie dann an den Ort zurück, an dem es ihnen am besten gefallen hat. Somit lernen sie insgesamt drei verschiedene Unternehmen bzw. Einrichtungen kennen – einen dieser Orte ganz besonders gut. Dany Hambach, Schulleiterin der Sekundarschule „An der Doppelkapelle“ in Landsberg, Sachsen-Anhalt, ist überzeugt von dem Projekt. „Das Ausbilden einer Berufsausbildungs- reife ist nicht, den Unterricht mit einer bestimmten Note abzuschließen, sondern wirklich in den Betrieben an- zukommen“, erklärt sie. „Firmen vermissen oft, dass diese Berufsbildungsreife da ist. Schüler, die in der 8. und 9. Klasse alle 14 Tage jeweils einen Tag an einem Praxislernort sind, haben ihren Horizont erweitert und wissen, was auf sie zukommt.“

Ein Erfolgsprojekt für Unternehmen? 

Doch wie leicht oder schwierig ist es, Firmen und Einrichtungen für die Praxistage zu gewinnen? Ist ein einziger Tag pro Woche beziehungsweise alle zwei Wochen praktikabel? Oder sind klassische zweiwöchige Blockpraktika gewinnbringender? „Die zusätzlichen Schülerbetriebs- praktika finden häufig am Ende eines Schuljahres als Blockpraktika statt“, erläutert Dany Hambach. „Ein ständiges Einbringen der praktischen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht ist durch die Organisation der Praxislerntage besser gewährleistet“, so die Schulleiterin aus Landsberg. „Je mehr Fachkräfte gesucht wurden, umso aufgeschlossener wurden die Betriebe und haben sich dem Projekt gegenüber geöffnet.“ Unternehmen, die am Praxistag teilnehmen möchten, verfassen in der Regel Steckbriefe mit jenen Stellen in ihrem Haus, die sie als Praxislernorte anbieten. Über diese Steckbriefe können sich die Schüler*innen um-fassend informieren.

In ländlichen Regionen wie Landsberg seien die Betriebe untereinander gut vernetzt und tauschten sich auch in puncto Praxistag aus. „Ebenso haben wir die Unterstützung von den Eltern, die zum Teil sehr engagiert sind und einen ganz bestimmten Praxislernort für ihr Kind mitbestimmen möchten“, so Hambach. „Oftmals arbeiten die Eltern direkt in diesen je- weiligen Betrieben.“

Praxistage vs. Blockpraktika 

Matthias Herzer aus Gera führt weitere Aspekte an, die für das Projekt sprechen: „Die Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen und Wünschen ist beim Tag in der Praxis wesentlich intensiver als im Rahmen eines Blockpraktikums, da beispielsweise Bewerbungsabläufe wie Bewerbungen schreiben, Bewerbungsgespräche, Einhaltung von Fristen, mehrfach stattfinden und so besser verinnerlicht werden können. Da im TiP zahlreiche regionale Unternehmen für sich aktiv werben, absolvieren die Schülerinnen und Schüler ihr Praktikum zum Teil auch in Berufsfeldern, die vorab nicht unbedingt auf der Favoritenliste ge- standen hatten.“ Zudem sei durch den langen Praktikumszeitraum eine komplette Verweigerung von desinteressierten Jugendlichen weniger gut möglich als bei einem ein- oder zweiwöchigen Blockpraktikum. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten ließen sich aber auch diese Schüler*innen größtenteils ins Projekt integrieren. 

Aller Anfang ist ... 

Den Start in das Projekt und den Aufbau entsprechender Strukturen beschreibt Matthias Herzer für sein Kollegium als „kräftezehrend“: „Anfänglich gingen zwar recht zahlreich Steckbriefe interessierter Unter- nehmen ein, diese waren aber über den gesamten Schulamtsbereich Ost verstreut und somit außerhalb der Erreichbarkeit für unsere Schüler. In unserem Schulstandort Gera hin- gegen fehlten Angebote bestimmter Berufszweige fast gänzlich, um über 80 Schülerinnen und Schüler adäquat mit passenden Praktikumsplätzen zu versorgen.“

Eine gänzlich andere Erfahrung machte man in Annaberg-Buchholz. Praxisberater Jörg Nestler unterstreicht den guten Austausch und eine gegenseitige Unterstützung mit der nahegelegenen Oberschule Jöhstadt. „Auch die Wirtschaftsförderung Annaberg unterstützte uns beispielsweise mit Kontakten. Eine Mitarbeiterin der Wirtschaftsförderung hat in den ersten vier Wochen den Unterricht mitbegleitet.“

„Die Einführung der Praxislerntage an den jeweiligen Schulen ist natürlicherweise mit einer Umstellung für die Schule, Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern verbunden, die für einen gewissen Mehraufwand in der Vorbereitung sorgen kann“, fasst es Josefine Hannig vom Bildungsministerium Sachsen- Anhalt zusammen. „Hierbei werden die Schulen durch die pädagogische Arbeitsstelle ‚Praxislerntage‘ unterstützt. Nach der Einführungsphase ist der Mehraufwand in der Vorbereitung meist nicht mehr gegeben.“

Steigende Motivation 

Der Nutzen der Praxistage scheint auf der Hand zu liegen, zumindest in Annaberg-Buchholz. Laut Schulleiterin Claudia Päckert und Praxisberater Jörg Nestler habe sich die Einstellung der Schüler*innen merklich verbessert, sodass sie sich auf den wöchent- lichen Praxistag freuten. Auch an den neuen Stundenplan, der durch das Projekt notwendig geworden war, hätten sich die Jugendlichen schnell gewöhnt.

„Bemerkenswert ist, dass die Schüler es nicht als problematisch empfinden, an manchen Tagen bis zur siebten oder achten Stunde Unterricht zu haben“, erklären Päckert und Nestler. „Dies deutet auf eine gute Integration des Praxistags in den Schulalltag hin.“

Voraussetzungen für die Teilnahme 

Interessierte Sekundar-, Gemeinschafts-, Gesamt- und Förderschulen in Sachsen-Anhalt haben die Möglichkeit, an den PLT teilzunehmen. Die Schulen könnten sich, so Josefine Hannig, durch die Pädagogische Arbeitsstelle „Praxislerntage“ am Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung (LISA) beraten lassen. „Die Teilnahme muss in der Gesamtkonferenz beschlossen und die Durchführung der PLT entsprechend vorbereitet werden“, erklärt die Pressereferentin. „Die Teilnahme an den PLT wird durch die Pädagogische Arbeitsstelle Praxislerntage am LISA bestätigt.“

Basierend auf ihren bisherigen Erfahrungen bezeichnen Claudia Päckert und Jörg Nestler den Praxistag an ihrer Schule als „gewinnbringend“. Grundvoraussetzung sei ein exzellent funktionierendes Berufsorientierungs-Team an der Schule, das außerordentliches Engagement für den Praxistag zeige. „Darüber hinaus bedarf es eines motivierten und aufgeschlossenen Kollegiums, das den Praxistag aktiv mitträgt und unterstützt. Ebenso förderlich sind enthusiastische Eltern und Schüler sowie solide Verbindungen zur lokalen Wirtschaft und Wirtschaftsförderung.“

Fehlende digitale Plattform 

Bei allem Enthusiasmus weist Matthias Herzer von der Ostschule Gera auf eine Problematik hin: „Bisher fehlt eine zentrale (digitale) Platt- form, auf der alle teilnehmenden Praktikumsunternehmen gelistet sind und die Schüler der jeweiligen TiP-Schulen die Möglichkeit haben, auf die entsprechenden Datensätze (Steck- briefe der Unternehmen) zuzugreifen.“ Derzeit baue sich jede Schule eine eigene (digitale) Infrastruktur auf, was zusätzliche Ressourcen und Arbeitszeit in Anspruch nehme, die an anderer Stelle fehlten, so Herzer. Dennoch: Prinzipiell würde er das Projekt auch anderen Schulen empfehlen.

Praxistage in Betrieben: Ein Modell, das für Schüler*innen auf verschiedenen Ebenen von großem Nutzen sein kann, ebenso für Unternehmen. Schulen hingegen sollten prüfen, ob sie die nötigen Kapazitäten haben, um ein solches Projekt zu starten. Mit den Praxistagen den Jugendlichen zu ihrem späteren Ausbildungsplatz zu verhelfen, könnte eine Motivation sein.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: 

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