Hohes Ansehen: Lehrkräfte gelten in Singapur als Vorbilder und sind ein Schlüssel im erfolgreichen Bildungssystem.
Wenn es um gute Bildung und Ausbildung geht, werden oft baltische oder skandinavische Staaten als Vorbild genannt. In Sachen duale Bildung liegen für viele die Schweiz und auch Deutschland vorn. Doch bei der letzten PISA-Studie 2022 führte ein anderes Land alle wichtigen Rankings an: Singapur. Mit knapp 6 Millionen Menschen auf der Fläche von Hamburg ist der Inselstaat südlich von Malaysia vergleichsweise ein Zwerg — aber die Leistungen insbesondere im MINT-Sektor sind riesig. SKILLS geht im übertragenen Sinn auf die Reise und erforscht die Gründe für diesen enormen Erfolg.
Historische Wurzeln des Bildungssystems
Wer die Gründe für die ambitionierte Bildungspolitik Singapurs verstehen will, sollte ein wenig tiefer in die Geschichte des Landes eintauchen. Die unabhängige Republik Singapur existiert erst seit 1965. Nach sozialen Unruhen und politischen Streitigkeiten spaltete sich die Südspitze Malaysias vom Mutterstaat ab und wurde souverän. Von der allerersten Stunde an hatte Bildung in dem jungen Stadtstaat einen enorm hohen Stellenwert. Sein erster Premierminister Lee Kuan Yew erkannte früh, dass die Entwicklung des Humankapitals entscheidend für den nationalen Fortschritt sein würde. Nach seinen Worten bestand die Strategie darin, „Singapurs einzige verfügbare natürliche Ressource zu entwickeln – seine Menschen“. In den Gründungsjahren war es von entscheidender Bedeutung, eine gut ausgebildete Bevölkerung zu schaffen, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Bildung war zudem der Schlüssel zu einem wettbewerbsfähigen Arbeitsmarkt.
Diese Philosophie hat sich bis heute gehalten: Bildung wird von vielen Menschen als Grundlage für berufliche Chancen, Wachstum und nationale Widerstandsfähigkeit betrachtet. In der singapurischen Gesellschaft und im nationalen Bildungssystem zählen Leistungsorientierung, Disziplin und Verantwortlichkeit als zentrale Werte. Sie prägen das Leben von Schüler*innen und ihren Familien. Eine ganz besondere Rolle kommt dabei den Lehrer*innen zu.
(Quelle: Singapore Institute of Technical Education/MOE)
Visionär: Studierende des Institute of Technical Education in Singapur
Lehrkräfte als Vorbilder
Lehrerinnen und Lehrer sind das Rückgrat des singapurischen Bildungssystems. In dem kleinen Land sind Lehrer*innen hoch angesehen – und gut bezahlt, weshalb viele junge Menschen beruflich in den Bildungssektor streben. Angehende Lehrkräfte werden sorgfältig ausgewählt und durchlaufen eine recht strenge Ausbildung am National Institute of Education (NIE). So gelingt es, hohe professionelle Standards im Unterricht zu gewährleisten.
Eine wichtige Funktion kommt dem Bildungsministerium zu. Dieses verfolgt einen zukunftsorientierten Ansatz und aktualisiert regelmäßig seine Bildungsziele, um den sich entwickelnden nationalen und globalen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ein Beispiel: Was in Deutschland seit 2018 als „Digitalpakt Schule“ stattfindet, gab es in Singapur bereits zehn Jahre früher. Eine weitere Besonderheit: Die Unterrichtssprache ist Englisch, und da die Schüler auch ihre Herkunftssprache lernen müssen, sind alle Jugendlichen also mindestens zweisprachig.
Lehrerinnen und Lehrer sind das Rückgrat des singapurischen Bildungssystems.“
Das Bildungssystem selbst ähnelt dem deutschen: An eine sechsjährige Primarstufe schließt sich eine vier- bis fünfjährige Sekundarstufe an, der in der Regel eine zwei- bis dreijährige Post-Sekundarstufe oder Tertiärstufe folgt. Gute Nachrichten für alle, die nach dem Abschluss studieren wollen: Singapurs Hochschulen wie die National University of Singapore (NUS) sowie die Nanyang Technological University (NTU) haben international hohes Ansehen. Im internationalen QS Hochschulranking belegen sie Platz 8 bzw. 12. Die beste deutsche Hochschule, die TU München, rangiert „nur“ auf Platz 22.
(Quelle: efired — stock.adobe.com)
Wachstum: Der kleine Inselstaat gilt in Sachen Bildung weltweit als Vorbild.
MINT und Technologie im Fokus
Der vermutlich wichtigste Unterschied zu vielen anderen Nationen, auch in Asien: Die MINT-Fächer Mathematik, Naturwissenschaften, Coding und Technik werden in Singapur ab der Grundschule gefördert. Schon Kleinkinder werden motiviert, zu forschen, Fragen zu stellen und Probleme zu lösen. Alles sind grundlegende Fähigkeiten für die MINT-Disziplinen, im Englischen als „STEM“ bekannt, abgekürzt für „Science, Technology, Engineering and Mathematics“.
Dank eines staatlich geförderten Programms für praxisorientiertes Lernen erwerben Schülerinnen und Schüler in vielen Grund- und Sekundarschulen praktische Erfahrungen. Oft geschieht das in Zusammenarbeit mit Einrichtungen, wie dem Science Centre Singapore. Über Programme, wie die Messe Singapore Science and Engineering Fair, und den Nationalen Robotik-Wettbewerb haben junge Menschen die Möglichkeit, ihre Leidenschaft für MINT-Fächer zu fördern. Und noch eine weitere, entscheidende Besonderheit: Singapurs Bildungsansatz unterscheidet nicht nach Geschlechtern. Allen werden die gleichen Möglichkeiten geboten, sich je nach Interesse und Begabung mit MINT-Kursen zu beschäftigen.
Bei der Vorbereitung auf ihre berufliche Laufbahn werden die Jugendlichen dabei von ihren MINT-Lehrkräften unterstützt. Diese Lehrkräfte profitieren wiederum von speziellen Fortbildungen, die vom National Institute of Education angeboten werden, sowie vom Peer Learn ing, einer kooperativen Lernform, die die gegenseitige Unterstützung fördert. Darüber hinaus bieten die Academy of Singapore Teachers und die STEM Community of Educators for Leading and Learning, kurz: STEM CeLL, des Science Centre Singapore den Lehrenden Gelegenheiten für Industriekontakte und Kooperationen. Hierbei können die pädagogischen Fachkräfte praktische Erfahrungen in Industrie und Forschung sammeln, von denen wiederum ihre Schüler*innen profitieren. Lehrkräfte können überdies an Workshops mit Branchenexpert*innen teilnehmen und sich an Initiativen zur Entwicklung innovativer Unterrichtspläne beteiligen. Ebenso gibt es Programme für interdisziplinäres Lernen sowie einen Master of Education in Naturwissenschaften, der ihnen weitere pädagogische und forschungsbezogene Fähigkeiten vermittelt.
(Quelle: josepperianes — stock.adobe.com)
Gleichberechtigt: In Singapurs Bildungssystem wird nicht nach Geschlechtern unterschieden.
Was Deutschland von Singapur lernen kann
Es wird deutlich, welche zentrale Rolle Lehrkräften als Wissensvermittler*innen zukommt. Die gesellschaftliche Wertschätzung und die finanzielle Unterstützung der Lehrkräfte sind für den Bildungserfolg offenbar entscheidend. Auch die stärkere Integration von Technologie in den Unterricht sowie eine gezieltere Förderung des MINT-Sektors könnte helfen, Schüler*innen besser auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Überdies gibt es im wohlhabenden Singapur weder Kultusministerkonferenzen noch sonstige föderale Strukturen: Entscheidungsprozesse laufen hier leichter, schneller und entsprechend effizienter.
Die Berufsbildung wird in Singapur immer weiter ausgebaut. Längst wird auch hier theoretische Ausbildung mit praktischer Erfahrung kombiniert, was den Übergang von der Ausbildung in den Beruf erleichtert. Darüber hinaus gilt: „technology rules“. Berufsausbildung ist auf dem neuesten Stand der Technik, schnelles Internet allerorten ist dabei ebenso selbstverständlich wie neueste Hardware – beides eine Frage von Investitionen sowie Investitionsbereitschaft. Und: Im Land wird großen Wert auf kontinuierliche Weiterbildung gelegt, damit Fachkräfte mit den sich ändernden Anforderungen der Wirtschaft Schritt halten können.
Bildung wird von vielen Menschen als Grundlage für berufliche Chancen, Wachstum und nationale Widerstandsfähigkeit betrachtet.“
Ja, es mag auch Kehrseiten geben. So herrscht, verglichen mit den Bedingungen hierzulande, durchaus Leistungsdruck. Dieser scheint in Japan, Korea und China jedoch ausgeprägter zu sein. Der Nachhilfemarkt boomt, Kinder lernen in Singapur weit über die eigentlichen Unterrichtszeiten hinaus. Und: Trotz guter Bildung fehlen auch hier Fachkräfte für Branchen mit hoher Nachfrage, was bislang auch an der eher selektiven Einwanderungspolitik und erschwerten Visabedingungen liegt. Hier will die Regierung jedoch gegensteuern.
Unter dem Strich ist das kleine Land ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie eine klare Vision, engagierte Lehrkräfte und eine starke Verbindung von Bildung, Wirtschaft und Wissenschaft das (Aus-)Bildungssystem kontinuierlich verbessern können.