In Afghanistan erleben wir derzeit eines der drastischsten Beispiele für den systematischen Ausschluss einer ganzen Bevölkerungsgruppe von Bildung. Seit der Machtübernahme der Taliban 2021 wurde Mädchen und Frauen schrittweise der Zugang zu Bildung verwehrt — ein Phänomen, das internationale Expert*innen als „Gender Apartheid“ bezeichnen.
Diese Situation bietet einen schmerzhaften Einblick in die weitreichenden Konsequenzen, die entstehen, wenn gesellschaftlichen Gruppen der Zugang zu Bildung und beruflicher Entwicklung systematisch verweigert wird. Seit der Taliban-Rückkehr wurden Dutzende Erlasse verabschiedet, die die rund 20 Millionen Frauen und Mädchen des Landes betreffen. Christina Ihle, Geschäftsführerin des Afghanischen Frauenvereins e. V., beschreibt die Entwicklung: „Der dramatischste Erlass ist sicherlich das Bildungsverbot für Mädchen ab Klasse 7. Die Grundschule in Afghanistan geht bis zur 6. Klasse, danach dürfen Mädchen offiziell nicht mehr zur Schule gehen.“ Als besonders einschneidend erwies sich dieser 24. Dezember 2022, als auch die Universitäten für Frauen geschlossen wurden — für Studentinnen ebenso wie für Professorinnen. Zuvor waren viele weibliche Mitarbeitende aus Behörden und Unternehmen ausgeschlossen worden.
Die Bildungsforschung zeigt eindeutig: Bildung ist in modernen Gesellschaften ein elementares Gut. Die Folgekosten von Bildungsarmut sind enorm, nicht nur für die*den Einzelnen, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. Dies manifestiert sich in Form von entgangenem Wirtschaftswachstum, geringeren Steuereinnahmen, fehlenden Fachkräften und politischen Krisen.
Fachkräftemangel als unmittelbare Folge
Die Auswirkungen des Bildungsverbots in Afghanistan zeigen sich bereits heute mit dramatischen Folgen. „Wir haben einen enormen Fachkräftemangel, z. B. in den von uns betriebenen acht Mutter-Kind-Kliniken als auch landesweit“, berichtet Ihle. „Das merken natürlich auch die afghanischen Behörden und das Gesundheitsministerium — es gibt gar nicht mehr genug Ärztinnen.“ Und das ist ein ernstes Problem für die gesundheitliche Versorgung der Mädchen und Frauen des Landes: Das strenge Prinzip der Geschlechtertrennung sieht vor, dass Frauen nur von Frauen behandelt werden dürfen. Auch in der Schule dürfen Mädchen nur von Frauen unterrichtet werden. Susan Raban von der NGO Afghanistan-Schulen bestätigt dies negative Entwicklung: „Es hängen so viele Familien von unserem Verein ab — Familien, bei denen die Frau z. B. als Lehrerin Alleinverdienerin ist.“ Der systematische Ausschluss von Frauen in vielen Branchen trifft eine Gesellschaft, in der Frauen unverzichtbare Rollen in der Grundversorgung innehatten.
(Quelle: Afghanistan-Schulen e. V.)
Ali Copan School in Mazar, Kurs für Kinder mit Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen
Brain Drain als gesellschaftliche Katastrophe
Ein weiteres verheerendes Phänomen ist der sogenannte „Brain Drain“ — die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte. „Gerade Akademikerinnen im Bildungs- und Gesundheitsbereich hatten oft die Möglichkeit, das Land zu verlassen, weil sie für internationale Organisationen tätig waren“, erklärt Ihle. „Das wiederum führte aber auch zum sogenannten Brain Drain, also dem Abwandern von Fachkräften, die im eigenen Land so dringend gebraucht werden.“
Brain Drain führt dazu, dass hochqualifizierte Arbeitskräfte im Inland fehlen, was die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung beeinflusst.
Psychologische und gesellschaftliche Auswirkungen
Die systematische Ausgrenzung führt nicht nur zu individuellen Tragödien, sondern zerstört den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das erreichte Bildungsniveau hat Auswirkungen in nahezu allen Lebensbereichen, von Wohnverhältnissen über Gesundheit und Lebenserwartung bis hin zu gesellschaftlicher und politischer Partizipation. Wenn einer ganzen Bevölkerungsgruppe diese Möglichkeiten verwehrt werden, entstehen Gesellschaften mit struktureller Ungleichheit und begrenztem Entwicklungspotenzial.
Die Frauen dort sind wahnsinnig pragmatisch, weil sie diese sehr patriarchalischen Strukturen immer schon hatten — gerade auf dem Land.“
Kreative Widerstandsformen und versteckte Bildung
Trotz aller Repressionen entwickeln die betroffenen Mädchen und Frauen in Afghanistan kreative Strategien und einen starken solidarischen Zusammenhalt. „Die Frauen dort sind wahnsinnig pragmatisch, weil sie diese sehr patriarchalischen Strukturen immer schon hatten — gerade auf dem Land“, beschreibt Ihle. „Sie versuchen, ihre eigenen Freiräume zu entwickeln und dabei sind sie extrem klug und diplomatisch.“ So erzählt sie von einem Radiosender, der noch bis Februar dieses Jahres ein Schulradio in 22 Provinzen Afghanistans angeboten hat. „Wir haben den älteren Mädchen unserer ehemaligen Gymnasien Radiolernpakete gegeben, mit denen sie in Gruppen auf Dorfebene gemeinsam lernen konnten. Immer war auch jemand vor Ort, der eine Ausbildung zur Lehrerin hatte. Das waren quasi private Lerngruppen und Lerninitiativen, mit denen sich Frauen und Mädchen auf dem Dorf beim gemeinsamen Lernen unterstützen.“ Auch Raban berichtet von innovativen Ansätzen: „Unterstützung für ältere Mädchen geht aktuell leider nur verdeckt, z. B. indem wir die Jungen in unserem eigenen Education Center ermutigen, die Bücher mit nach Hause zu nehmen und ihren Schwestern oder Cousinen zu zeigen. Wir verbreiten zudem Lehrmaterial auf YouTube oder zeigen Unterrichtsstunden im lokalen Fernsehen.“
Volkswirtschaftliche Dimension des Bildungsausschlusses
Aus ökonomischer Sicht kann Bildung als Investition in das Wissen und die Fähigkeiten der Bevölkerung angesehen werden. Wenn die Hälfte der Bevölkerung von dieser „Investition“ ausgeschlossen wird, entstehen massive volkswirtschaftliche Verluste.
Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die Bildungsleistung der Bevölkerung der wohl wichtigste Bestimmungsfaktor für das langfristige volkswirtschaftliche Wachstum sind. Afghanistan beraubt sich damit systematisch seiner wichtigsten Ressource für nachhaltiges Wachstum.
(Quelle: Afghanistan-Schulen e. V.)
Einer der Mädchenkurse (Klasse 4 – 6) am Education Center Yuldoz
Lehren für die berufliche Bildung
Die Situation in Afghanistan verdeutlicht drastisch, was Bildungsforschung seit Langem weiß. Bildung wirkt weit über die berufliche Qualifikation hinaus: Sie eröffnet Wege aus gesellschaftlicher Benachteiligung, fördert Gesundheit und Lebensqualität und ermöglicht eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wenn einer Bevölkerungsgruppe systematisch der Zugang zu Bildung und Ausbildung verwehrt wird, entstehen nicht nur individuelle Tragödien, sondern gesellschaftliche Katastrophen. „Die größte Gefahr ist Resignation“, warnt auch Ihle. „So ist wichtig, dass die Welt weiter hinschaut und Mädchen und Frauen in Afghanistan in ihrem schwierigen Kampf um Bildung und Ausbildung bestmöglich unterstützt.“
Die Erfahrungen aus Afghanistan zeigen: Bildungsausschluss ist nie nur ein individuelles Problem. Er untergräbt die gesamte gesellschaftliche Entwicklung, führt zu Fachkräftemangel, Brain Drain und volkswirtschaftlichen Verlusten. Für die berufliche Bildung bedeutet dies: Inklusion und gleichberechtigter Zugang sind nicht nur moralische Imperative, sondern ökonomische Notwendigkeiten für prosperierende Gesellschaften. Bildung ist ein Menschenrecht, dessen Verweigerung ganze Gesellschaften ihrer Zukunft beraubt.