Europäische Botschafterinnen der Boss Ladies Europe
Technische und handwerkliche Berufe sind in Europa bis heute stark geschlechtsspezifisch geprägt: Nur wenige Frauen entscheiden sich für Ausbildungs- und Karrierewege in diesen Bereichen — und die, die es tun, stoßen nicht selten auf Vorurteile, strukturelle Hürden oder schlicht fehlende Netzwerke. Genau hier setzt das dänische Projekt Boss Ladies an, das seit Kurzem auch in Europa aktiv ist.
Mit einem ganzheitlichen Ansatz schafft Boss Ladies neue Möglichkeiten für Mädchen und junge Frauen, stärkt ihre Sichtbarkeit und wirkt daran mit, Strukturen in der Berufsbildung und der Arbeitswelt nachhaltig zu verändern. Wir sprachen mit Nina Groes, Direktorin und Gründerin der dänischen Organisation Divers und Initiatorin des Projekts Boss Ladies.
Frau Groes, was ist das Anliegen von Divers?
Ich habe Divers 2018 gegründet, um eines der größten Paradoxe unserer Zeit anzugehen. Während der Arbeitsmarkt nach Fachkräften im Handwerk schreit, halten starre Strukturen und Stereotype viele junge Menschen — insbesondere Frauen und Angehörige von Geschlechterminderheiten — davon ab, ihre Traumkarriere im Handwerk zu verfolgen.
Bei Divers wollen wir Stereotype aufbrechen, Chancengleichheit schaffen, Vielfalt fördern und Talente freisetzen. Unsere Methoden entfalten eine 360°-Perspektive, wobei unser Aktivitätsspektrum vom Klassenzimmer bis zum Sitzungssaal reicht, sowohl national als auch international. Wir schaffen starke Bildungs- und Berufsgemeinschaften dort, wo der größte Veränderungsbedarf besteht. Anstatt Probleme zu individualisieren, stärken wir Menschen durch kollektive Unterstützung. Wir fördern das Selbstwertgefühl, das auf individuellen Fähigkeiten und ihrer Persönlichkeit basiert.
Die Arbeit bei Boss Ladies hat deutlich gemacht, dass Frauen in technischen und männerdominierten Bereichen oft mit erheblichen Barrieren konfrontiert sind.“
Wir schaffen Wandel im Zusammenspiel breiter Allianzen. Wir wissen, dass komplexe Probleme, die Menschen in veralteten Strukturen gefangen halten, nur durch die enge Zusammenarbeit mit den Menschen und Systemen gelöst werden können, die wir verändern wollen. Deshalb arbeiten wir mit dem Bildungssystem und dem Arbeitsmarkt dort zusammen, wo Einzelpersonen erfolgreich sein können. Wir geben marginalisierten Gruppen mehr Gehör, stärken sie als aktive Akteure des Wandels und unterstützen sie dabei, Vorbilder für zukünftige Generationen zu werden.
Wie entstand das Boss Ladies-Projekt? Was war das Ziel?
Boss Ladies ist das größte und am längsten laufende Transformationsprojekt von Divers. Es wurde ins Leben gerufen, um das Interesse junger Frauen an den immer noch stark geschlechtergetrennten technischen und handwerklichen Berufen zu wecken und die wenigen Frauen in diesen Berufen zu halten. Das Projekt zielt darauf ab, den Status und die Anerkennung dieser Berufe zu stärken und gleichzeitig die Geschlechterstereotypen abzubauen, die Bildung und Arbeitsplätze jahrzehntelang geprägt haben. Im Laufe der Zeit haben wir umfassende Expertise darin entwickelt, echte und konkrete Veränderungen für die Einzelne, die Berufsbildungseinrichtungen und die Branche zu bewirken. Im Mittelpunkt all unserer Aktivitäten steht unser Boss Ladies-Botschafterkorps mit fast 500 Frauen aus verschiedenen Berufsgruppen. Sie sind alle mit großer Leidenschaft für ihren Beruf tätig, stoßen aber als Minderheit oft auf geschlechtsspezifische Hindernisse. Daher ist das Boss Ladies-Botschafterkorps in erster Linie eine Gemeinschaft, die einen sicheren Raum bietet, in dem sich alle Botschafterinnen gegenseitig anfeuern, Erfahrungen austauschen, Rat suchen und Inspiration finden können. Indem wir Frauen als Boss Ladies stärken, stärken wir nicht nur ihr Selbstwertgefühl, sondern machen sie auch zu Vorbildern und Impulsgeberinnen für den Wandel in der Berufswelt und für die nächste Generation von Fachkräften.
(Quelle: Agnete Schlichtkrull)
Nina Groes, Gründerin und Direktorin Divers
Welche Herausforderungen haben Sie bisher bei Boss Ladies bewältigt?
Natürlich hatten wir zu Beginn von Boss Ladies mehr damit zu tun, wichtige Interessengruppen vom Potenzial der geschlechtergerechten Arbeit im Handwerk und der Industrie zu überzeugen. Die Arbeit bei Boss Ladies hat deutlich gemacht, dass Frauen in technischen und männerdominierten Bereichen oft mit erheblichen Barrieren konfrontiert sind. Viele unserer Botschafterinnen erzählen, wie sie die einzige Frau in ihrer Klasse, auf der Baustelle oder in der Werkstatt waren. Das bringt oft die Erfahrung mit sich, entweder unsichtbar zu sein oder sich mehr beweisen zu müssen als ihre männlichen Kollegen. Darüber hinaus sehen wir uns weiterhin mit strukturellen Herausforderungen konfrontiert, wie Sicherheitsschuhen und Arbeitskleidung, die Frauen nicht richtig passen, sowie einer Arbeitskultur, die von Stereotypen geprägt ist, die suggerieren, dass Frauen nicht in technische Berufe gehören. Wir haben heute viel erreicht und erfahren generell großes Interesse und Engagement unserer Stakeholder, strategisch mit Inklusion und Diversität zu arbeiten. Dabei geht es nicht so sehr darum, warum sie mit geschlechtsspezifischen Hindernissen arbeiten sollten, sondern wie sie damit umgehen können.
(Quelle: Frank Erpinar)
Eine Boss Ladies-Botschafterin zeigt einer Schülerin ihr Handwerk.
Welche Erfolge konnten Sie bisher mit Boss Ladies erzielen?
Ich habe viele Erfolge mit Boss Ladies erzielt, möchte aber insbesondere hervorheben, wie Boss Ladies Dänemarks größte Community für Frauen in technischen und handwerklichen Berufen aufgebaut hat, in der sie sich täglich gegenseitig inspirieren und stärken. Das bedeutet, dass sie nicht mehr alleinstehen, sondern ein Netzwerk haben, in dem sie sich selbst wiederfinden, neue Freunde finden, ihre Leidenschaft teilen und neue weibliche Talente für ihre Berufe gewinnen können. Die Zahlen belegen die Ergebnisse deutlich. Laut dem dänischen Ministerium für Kinder und Bildung ist der Anteil weiblicher Auszubildender im Holz verarbeitenden Handwerk von 2021 bis 2024 um 42 % und der Anteil weiblicher Auszubildender im Kfz-Handwerk von 2021 bis 2024 um 51 % gestiegen. In der Schweißerausbildung am Herningsholm Vocational College in Herning haben wir eine umfassende Diversitätsstrategie umgesetzt. Und die Entwicklung ist noch bemerkenswerter: Der Frauenanteil in der technischen Berufsausbildung der Schule ist um 106 % gestiegen. Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass die enge Zusammenarbeit mit Schulen und Unternehmen funktioniert und dass Vorbilder und starke Netzwerke einen spürbaren Unterschied machen.
Viele unserer Botschafterinnen erzählen, wie sie die einzige Frau in ihrer Klasse, auf der Baustelle oder in der Werkstatt waren. Das bringt oft die Erfahrung mit sich, entweder unsichtbar zu sein oder sich mehr beweisen zu müssen als ihre männlichen Kollegen.“
Welche Hoffnungen haben Sie für die Zukunft des Projekts?
Ich hoffe, dass das Boss Ladies-Projekt weiterhin Talente freisetzt, Barrieren durchbricht und Stereotypen hinterfragt — und dass es sich von einer dänischen Initiative zu einer grenzüberschreitenden Bewegung entwickelt. Es begann mit einer kleinen Gruppe von Frauen in Dänemark, die ihre Leidenschaft und Erfahrungen teilten, aber mir wurde schnell klar, dass der Bedarf an einer Gemeinschaft universell ist. So entstand Boss Ladies Europe: ein Netzwerk, in dem Botschafterinnen aus verschiedenen Branchen und Ländern Erfahrungen, Unterstützung und Inspiration austauschen. Wir wissen, dass Europa vor großen Herausforderungen steht, genügend Fachkräfte im Handwerk zu finden, und dennoch sehen wir, dass es beispielsweise nur etwa 1 % Klempnerinnen, 1 % Elektrikerinnen und 2 % Tischlerinnen gibt (EURES, 2023). Deshalb hoffe ich, dass Boss Ladies sich weiterhin zu einem starken Katalysator für Veränderungen in ganz Europa entwickelt und Frauen Wege eröffnet, ihre Träume und Ambitionen in technischen Berufen und im Handwerk zu verwirklichen.
Laut dem dänischen Ministerium für Kinder und Bildung ist der Anteilweiblicher Auszubildender im Holz verarbeitenden Handwerk von 2021 bis 2024 um 42 % und der Anteil weiblicher Auszubildender im Kfz-Handwerk von 2021 bis 2024 um 51 % gestiegen.“