Ob Erstausbildung, Weiterbildung oder beruflicher Umstieg — zahlreiche Wege stehen den Schweizer*innen offen und sind flexibel gestaltbar.
Das Schweizer Berufsbildungssystem gilt weltweit als einmalig und sehr durchlässig. Doch was ist dran an den Weiterbildungsangeboten, die es auf sämtlichen Ebenen geben soll? Und ist ein Tätigkeitswechsel wirklich ganz ohne Umwege möglich? Wir wollten es genauer wissen.
Die Grafik des Schweizer Bildungssystems zeigt vor allen Dingen eins: eine Menge Pfeile. Pfeile, die für Möglichkeiten stehen. Und diese Pfeile gibt es nicht nur zahlreich, sondern sie zeigen auch in viele verschiedene Richtungen. Für jeden und jede ist also alles möglich?
„Bei uns in der Schweiz stehen rund 250 Berufe zur Auswahl“, berichtet Tiziana Fantini, Projektverantwortliche für die Kommunikation des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). „Wer eine Berufslehre gemacht hat, kann eine Höhere Fachschule besuchen oder eine eidgenössische Prüfung ablegen. Das gilt beispielsweise für Bäckermeister, Pflegefachpersonen oder Industrietechniker*innen. Leute mit einer höheren Berufsbildung haben vielfältige Karrieremöglichkeiten und oft auch bessere Löhne. Auch das Risiko, arbeitslos zu werden, ist geringer.“
Übliche und mögliche Wege
Ein genauer Blick auf die Bildungsgrafik der Schweiz zeigt: Nach der Obligatorischen Schule bestimmen Schüler*innen im Alter von etwa 15 Jahren ihren weiteren Bildungsweg. Dabei können sie zwischen der Beruflichen Grundbildung (in Betrieben und Berufsfachschulen) und dem Besuch von Allgemeinbildenden Schulen (Fachmittelschulen und Gymnasien) wählen. Nach erfolgreich bestandenen Prüfungen stehen beiden Absolventengruppen alle Wege offen — vom Bachelor über Master und Diplom bis hin zum Doktor. Hier gibt es, ähnlich wie in Deutschland, verschiedene „übliche“ und „mögliche“ Wege. Nur werden in Deutschland die vielfältigen Chancen, die man auch mit einem Haupt- oder Realschulabschluss hat, eher selten kommuniziert. Dabei besteht in beiden Fällen die Möglichkeit, über das (Fach-)Abitur oder eine Berufsausbildung, ein Studium zu absolvieren und eine akademische Laufbahn einzuschlagen.
Leute mit einer höheren Berufsbildung haben vielfältige Karrieremöglich- keiten und oft auch bessere Löhne. Auch das Risiko, arbeitslos zu werden, ist geringer.“
Doch zurück zur Schweiz, wo sich jährlich rund zwei Drittel der Jugendlichen für eine Berufslehre entscheiden. Nachgefragt sind hier vor allem Ausbildungsplätze in den Bereichen Öffentliche Verwaltung, Finanz- und Versicherungsdienstleistungen, Information und Kommunikation, Erziehung und Unterricht sowie freiberufliche Dienstleistungen. Offene Lehrstellen gibt es aktuell (Stand: August 2025) noch in wirtschaftlichen Dienstleistungen sowie dem Gast- und dem Baugewerbe. Rund 7.000 Lehrstellen blieben im Jahr 2024 in der Schweiz unbesetzt. In Deutschland waren es laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) knapp 70.000 Stellen.
(Quelle: SBFI)
Viele Pfeile, viele Möglichkeiten — das Schweizer Bildungssystem.
Zwei Wege, die gleichwertig sind
Der Berufsbildungsweg und der allgemeinbildende Weg seien in der Schweiz gleichwertig, aber andersartig, so Fantini. Ein eklatanter Unterschied zu Deutschland, wo — gesellschaftlich gewachsen — der akademische Weg einen höheren Stellenwert hat als eine Berufsausbildung. Doch genau dieser Mix plus die stark ausgebaute Durchlässigkeit des gesamten Schweizer Bildungssystems bringen sowohl der Gemeinschaft als auch der Wirtschaft einen konkreten Nutzen: qualifizierte Fach- und Führungskräfte, eine geringe (Jugend-)Arbeitslosigkeit sowie soziale Stabilität.
„Die Schweizer Berufsbildung ist eng verknüpft mit den Bedürfnissen der Arbeitswelt“, erläutert Tiziana Fantini. „Ausgebildet wird dort, wo in der Wirtschaft eine Nachfrage besteht. Es sind deshalb die Betriebe und die sie vertretenden Verbände und Organisationen, die die Bildungsinhalte bestimmen. Sie ermöglichen es, flexibel auf wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, denen die heutige Arbeitswelt unterliegt. Bund und Kantone sorgen dabei für gute Rahmenbedingungen.“
Die Schweizer Berufsbildung ist eng verknüpft mit den Bedürfnissen der Arbeitswelt. Ausgebildet wird dort, wo in der Wirtschaft eine Nachfrage besteht.“
Potenziale erkennen und Inhalte anpassen
Eine zentrale Aufgabe des SBFI besteht darin, für unterschiedliche Begabungspotenziale weiterhin passende Bildungsangebote bereitzustellen. Zudem entwickelt das SBFI sein System laufend so weiter, dass sich Berufsbildung und akademische Bildung auch künftig optimal ergänzen und die gegenseitige Durchlässigkeit weiterhin gestärkt wird.
Mindestens alle 5 Jahre, so die Projektverantwortliche, würden sämtliche beruflichen Grundbildungen auf wirtschaftliche, technologische, ökologische und didaktische Entwicklungen hin überprüft und bei Bedarf angepasst. Dasselbe gelte für die Bildungsangebote und Abschlüsse der höheren Berufsbildung. In den Jahren 2023 und 2024 habe das SBFI insgesamt 83 neue oder revidierte Berufe genehmigt und erlassen.
„Durch den regelmäßigen Prozess der Berufsentwicklung und die aktive Rolle der Wirtschaft können die Absolvent*innen einer beruflichen Grundbildung sicher sein, dass das Erlernte nachgefragt ist“, erklärt Tiziana Fantini. „Auch die Bildungsangebote und Abschlüsse der höheren Berufsbildung werden regelmäßig überprüft und auf die aktuellen Gegebenheiten abgestimmt. Die Ausbildung ist ebenfalls arbeitsmarktorientiert, und die höhere Berufsbildung versorgt die hochspezialisierte Schweizer Wirtschaft mit qualifizierten Fachkräften.“
(Quelle: SBFI)
Tiziana Fantini ist Projektverantwortliche für die Kommunikation des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI).
Selber ausbilden lohnt sich
Ausbildungsplätze anzubieten, ist für Betriebe in der Schweiz genauso wenig verpflichtend wie in Deutschland. Häufig beruht die Entscheidung auf dem Abwägen des erwartbaren Kosten-Nutzen-Verhältnisses. Eine Veröffentlichung des Observatoriums für die Berufsbildung des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung (OBS EHB) zeigt, dass es sich für die meisten Lehrbetriebe lohnt, selbst Fachkräfte auszubilden, statt diese extern zu rekrutieren.
Die höhere Berufsbildung versorgt die hochspezialisierte Schweizer Wirtschaft mit qualifizierten Fachkräften.“
Doch „Bildung“ bedeutet nicht nur Aus-, sondern ebenso Weiterbildung. Und auch hier tun sich in der Schweiz viele Möglichkeiten auf: „Weiterbildung ist wichtig für uns alle, für die Gesellschaft und für die Wirtschaft“, so Fantini. „Technologische Entwicklungen erfordern es, dass wir uns ständig weiterentwickeln. Dank der hohen Durchlässigkeit unseres Bildungssystems ist lebenslanges Lernen für jede und jeden von uns jederzeit möglich.“
Ob Erstausbildung, Weiterbildung oder beruflicher Umstieg — zahlreiche Wege stehen den Schweizer*innen offen und sind flexibel gestaltbar. Damit bietet das Land mit knapp 9 Millionen Einwohnern nicht nur jungen Menschen, sondern auch erfahrenen Fachkräften beste Voraussetzungen für lebenslanges Lernen und eine stabile berufliche Zukunft.