Marie sitzt frustriert vor ihrem Laptop. Die blinde Programmiererin ist auf ein Softwareunternehmen aufmerksam geworden und würde sich gerne bewerben. Aber ihr Screenreader scheitert an der Karriereseite: Die Eingabefelder haben keine Beschriftungen und die Buttons sind nur als Grafiken eingebunden. Ohne sehende Hilfe kommt sie hier nicht weiter. Thomas starrt auf den Bildschirm und versucht, in einem Online-Shop Winterstiefel für seine Tochter zu bestellen. Seit seinem Schlaganfall vor sechs Monaten ist er durch eine Spastik in den Händen beeinträchtigt und die winzigen Buttons der Website sind für ihn unerreichbar. Tastatursteuerung und Spracheingabe funktionieren nicht. Entmutigt schließt er den Browser.
Thomas und Marie sind keine Ausnahmen. Unzählige Menschen stehen Tag für Tag vor verschlossenen digitalen Türen – sei es beim Online-Shopping oder bei der Jobsuche. Darunter leiden nicht nur Personen mit Behinderungen – auch die Unternehmen verlieren, ohne es zu bemerken: Ihnen entgehen Umsätze, Talente und Fachkompetenzen. Das soll sich bald ändern. Ab dem 25. Juni 2025 greift das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, kurz BFSG. Dann müssen nicht mehr nur öffentliche Einrichtungen, sondern auch private Unternehmen ihre neu auf den Markt kommenden digitalen Angebote für alle zugänglich machen. Das betrifft Webseiten genauso wie Software, Banking-Apps oder Fahrkarten-Automaten.
Ein Meilenstein für die digitale Inklusion
Teilhabe und Selbstbestimmung sind seit Gründung der Bundesrepublik im Grundgesetz verankert. Mit dem BFSG erreichen diese Prinzipien nun auch die digitale Welt. Das am 22. Juli 2021 in Kraft getretene Gesetz setzt die europäische Richtlinie zur Barrierefreiheit (European Accessibility Act) um.
Die Kernpunkte des BFSG
Das BFSG schafft verbindliche Standards für eine inklusive digitale Gesellschaft, in der Barrierefreiheit nicht als Zusatz, sondern als selbstverständliche Grundvoraussetzung verstanden wird. Alle Menschen sollen gleichberechtigt am digitalen Leben teilhaben können – mit oder ohne Behinderung.
Digitale Produkte und Dienstleistungen müssen demnach barrierefrei gestaltet sein. Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung diese
selbstständig finden
problemlos erreichen und
eigenständig nutzen können.
Warum sich digitale Barrierefreiheit für Unternehmen rechnet
Zukunftsorientierte Unternehmen begreifen das BFSG nicht als bloße Pflichterfüllung, sondern als strategische Chance. Die Zahlen sprechen für sich: Allein in Deutschland leben fast acht Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung. Dazu kommen immer mehr Ältere, die auf gut lesbare Websites und einfach bedienbare Apps angewiesen sind. Auch Menschen mit Migrationshintergrund finden sich auf klar strukturierten Seiten in leicht verständlicher Sprache besser zurecht.
Zukunftssicher dank Barrierefreiheit
Unternehmen, die sich der digitalen Barrierefreiheit verschließen, riskieren nicht nur rechtliche Konsequenzen, sondern auch ihre Marktposition. In einer zunehmend digitalen Wirtschaft wird die barrierefreie Gestaltung von digitalen Produkten und Dienstleistungen zum entscheidenden Erfolgskriterium. Wenn Kund*innen aufgrund ihrer Beeinträchtigung keine Termine buchen können oder Produktinformationen nicht wahrgenommen werden, gehen konkrete Geschäftschancen verloren. Dies gilt für alle Branchen – vom Friseurgeschäft bis zum internationalen Konzern. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels kann es sich kein Unternehmen leisten, potenzielle Auszubildende oder Mitarbeiter*innen durch unzugängliche Karriereseiten zu verlieren. Eine barrierefreie digitale Infrastruktur signalisiert nicht nur soziale Verantwortung – sie ist der Schlüssel zu einer guten Marktposition und zu einem vielfältigen, zukunftsfähigen Team.
Das BFSG ist ein wichtiger Schritt zu einer inklusiveren Gesellschaft und Arbeitswelt."
Inklusion in der Berufsbildung: Das BFSG schafft neue Chancen
Das BFSG wird die berufliche Bildung prägen, denn es schärft nicht nur das Bewusstsein für Inklusion, sondern ebnet durch barrierefrei zugängliche Bildungsangebote den Weg zu fairen Karrierechancen und vielfältigen beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für alle Menschen.
Der Countdown läuft: Barrierefreiheit wird Pflichtfach
Das neue Gesetz verändert, was Auszubildende künftig lernen werden. Wer heute eine Ausbildung beginnt – ob in der IT, als Elektroniker*in, als Mediengestalter*in oder im kaufmännischen Bereich – muss erfahren, wie man Produkte und Dienstleistungen barrierefrei gestaltet.
Berufsbegleitend fit für Barrierefreiheit
Auch wer bereits im Job ist, kommt mit dem Thema Barrierefreiheit in Berührung. Unternehmen stehen vor der Aufgabe, eigene Schulungsprogramme zu entwickeln oder externe Angebote zu finden, um ihre Mitarbeitenden für die neuen Anforderungen zu qualifizieren.
Bild: AdobeStock
Neue Berufe mit Zukunft
Das BFSG schafft neue Jobprofile. Expertise wird besonders in Bereichen wie inklusivem Produktdesign und digitaler Zugänglichkeit gefragt sein. Bildungseinrichtungen sind gefordert, entsprechende Schulungsformate zu konzipieren.
Digitale Transformation der Bildung
Die Anforderungen des BFSG erstrecken sich auch auf kostenpflichtige digitale Lernumgebungen. Die entsprechenden E-Learning-Plattformen, digitale Lehrmaterialien und technische Infrastrukturen müssen barrierefrei gestaltet werden.
Zukunftsorientierte Unternehmen begreifen das BFSG nicht als bloße Pflichterfüllung, sondern als strategische Chance.“
Kulturwandel statt Pflichtübung: Die große Chance für Wirtschaft und Bildung
Das BFSG ist ein wichtiger Schritt zu einer inklusiveren Gesellschaft und Arbeitswelt. Es bietet die Chance, Barrierefreiheit als Qualitätsmerkmal in Unternehmen und in der beruflichen Bildung zu etablieren, um damit einen Nutzen für alle Beteiligten zu schaffen. Ob diese Entwicklung erfolgreich sein wird, hängt vor allem davon ab, wie aktiv Bildungseinrichtungen und Unternehmen sie mitgestalten.
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ist weit mehr als ein regulatorischer Rahmen. Es ist – hoffentlich – der Katalysator für einen umfassenden Kulturwandel.