Wann ist es eigentlich passiert, dass der Schuster um die Ecke gleichzeitig auch zum Schlüsseldienst wurde? Oder ein großer Kaffeehersteller beschloss, Campingzelte in sein Sortiment aufzunehmen? Und wie lange wird es dauern, bis der Physiotherapeut auch Immobilien verkauft?
Branchen, Berufe und Angebote befinden sich ohne Frage in einem permanenten Wandel. Wären sie es nicht, würde es einige von ihnen womöglich gar nicht mehr geben. Doch reichen Anpassungen an die Nachfrage und den technischen Fortschritt tatsächlich aus, um Berufe vor dem Verschwinden zu bewahren? „Ganze Berufe sterben selten aus“, weiß Dr. Ole Wintermann, Senior Project Manager für KI und strategische Organisationsentwicklung sowie Buchautor. „Vielmehr sprechen wir von einem veränderten Kompetenz- und Anforderungsprofil innerhalb eines erlernten Berufs. Es sind vor allem Routinetätigkeiten innerhalb der bestehenden Profile, die verschwinden werden.“
Zweifelhafte Prognosen in der Vergangenheit
Berufe in den Sektoren Buchhaltung, Fahrzeugbau, Redaktion und Einzelhandel, die u. a. laut der Wirtschaftswoche dem Untergang geweiht seien, bleiben also auch weiterhin bestehen? Sollten wir somit jenen Prognosen nicht allzu viel Bedeutung beimessen? Dr. Ole Wintermann sei nach zwei Jahrzehnten Arbeit in diesem Themenfeld jedenfalls sehr vorsichtig geworden. „Ältere Schätzungen, die allerdings methodisch auch schnell hinterfragt wurden, sahen bis zu 47 % der Jobs als technisch automatisierbar an; das war, wie man heute weiß, eine katastrophale und methodisch zweifelhafte Aussage“, so der Sozialökonom. „Neuere Analysen haben daraus gelernt, und formulieren Aussagen deutlich realitätsnäher und kontextualisierter.“ Im Gegensatz dazu verweist Wintermann auf eine aktuelle Studie von OpenAI, die ebenfalls zu dem Ergebnis käme, dass das Verschwinden vor allem Routinetätigkeiten ohne soziale Interaktionskompetenz beträfe.
Es sind vor allem Routinetätigkeiten innerhalb der bestehenden Profile, die verschwinden werden.“
KI ist Verantwortung von Führungskräften
Laut Dr. Ole Wintermann sei es der „menschliche Kern“, der auch künftig bestehen bliebe: Kundenkontakt, Empathie, Teamkoordination, Prozessverständnis. „Dazu kommen analytisches und kreatives Denken sowie ‚Technologie- literacy‘ als Brücke zur Nutzung von KI-Werkzeugen“, erläutert der Experte. „Arbeitgeber nennen, sofern sie dies denn erkannt haben, genau jene Skills als wachsend bedeutsam. Eine Kompetenz, die bisher bei der Nutzung von KI in gerade inhaltlich geprägten Tätigkeiten gern übersehen wird, ist die Fähigkeit, der KI den Kontext so darzustellen, dass diese auch zu signifikanten Mehrwerten beitragen kann.“
Soll heißen, wir müssen uns die Fähigkeit antrainieren, sinnvoll mit der KI zu kommunizieren? Oder anders gefragt: Wird ein natürlicher Umgang mit KI das Aussterben von Berufen verhindern können? Dr. Ole Wintermann erklärt es an einem praktischen Beispiel: „Wenn der Handwerksmeister oder der Inhaber eines kleinen Unternehmens selbst nicht fähig ist, die KI-Bestandteile des Berufs zu erkennen, wird die Nutzung von KI nicht vorangehen. KI-Transformation liegt in der Verantwortung der Führungskräfte. Inhaltlich betrachtet übernehmen Maschinen wiederholbare Schritte, Menschen übernehmen Koordination, Qualität, Beratung.“
Ältere Schätzungen, die allerdings methodisch auch schnell hinterfragt wurden, sahen bis zu 47 % der Jobs als technisch automatisierbar an; das war, wie man heute weiß, eine katastrophale und methodisch zweifelhafte Aussage.“
Das Mindset ist wichtig
Auf die Frage, wie eine erfolgreiche Integration von Quereinsteiger*innen gelingen könne, hat der Projektmanager ebenfalls eine eindeutige Antwort: „Vorleistungen anerkennen und Lücken gezielt schließen, denn die zielgerichtete Validierung von existierenden Skills beschleunigt Übergänge und verhindert Doppelqualifizierung.“ Am wirksamsten seien modulare Programme mit Lernanteilen direkt am Arbeitsplatz plus klaren Förderwegen; viele Erwachsene würden sonst an Zeit-, Kosten- und Informationsbarrieren scheitern. „Was aber auch hier am Ende immer gilt: Ohne das entsprechende Mindset sind formale Fortbildungen nutzlos.“
(Quelle: Freepik by gstudioimagen)
Wenn der Handwerksmeister oder der Inhaber eines kleinen Unternehmens selbst nicht fähig ist, die KI-Bestand teile des Berufs zu erkennen, wird die Nutzung von KI nicht vorangehen.“
Tech-Grundlagen auch für Nicht-Techniker*innen
Die Bereitschaft, unsere Lernfähigkeit zur Routine werden zu lassen, ist also essenziell. So war es immer schon, insbesondere für Berufs- und Quereinsteiger. Hinzu kämen laut Wintermann nun aber auch eine Daten- und Prozesskompetenz sowie die Kombinationsfähigkeit von Analytik, Kreativität, Resilienz und die Offenheit für Tech-Grundlagen — auch oder gerade, wenn man selbst kein Techniker sei. „Genau diese Profile gewinnen laut Unternehmensbefragungen am schnellsten an Bedeutung.“
Dr. Ole Wintermann sieht eine chancenreiche Zukunft, wenn es uns gelänge, Übergänge zu organisieren und Qualifizierungen vorzuziehen. Und er ergänzt: „Gerade die Tätigkeit von Führungskräften, Entscheidungen in komplexen Situationen zu treffen, kann KI schon heute oftmals sehr viel besser als der Mensch.“ Doch um das herauszufinden, müsste man mit eben solchen KI-Tools arbeiten ...