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Inklusive Bildung an der blista: Chancen für sehbeeinträchtigte Schüler*innen

„Aufgeben is‘ nicht!“

Morgens neun Uhr, der Unterricht ist in vollem Gange, gleichzeitig sind kleine Grüppchen von zwei bis vier Leuten auf dem Gelände der blista unterwegs. Einige Schüler*innen haben gerade Mobilitätstraining. Sie lernen, sich selbstständig auf dem Campus und in angrenzender Umgebung zurechtzufinden. Das Gelände ist mit Mensa, Sport- und Schwimmhalle, Verwaltung, der Montessori-Gesamtschule, der Berufsschule sowie mehreren Gebäuden der Carl-Strehl-Schule (CSS) schon für eine sehende Person eine komplexe Angelegenheit. Die blista beherbergt im hessischen Marburg das einzige staatlich anerkannte Gymnasium mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ im gesamten deutschsprachigen Raum von der Klasse 5 bis 13. Insgesamt ­250 Schüler*innen und 60 Lehrkräfte gehen hier ein und aus.

Zwei von ihnen sind Heike und Jens Flach. Die beiden sind seit mehr als zwanzig Jahren ein Paar und haben drei gemeinsame Kinder, die die Montessori-Schule auf dem blistaCampus besuchen. Während Jens Flach aufgrund seiner Sehbeeinträchtigung ab der 9. Klasse selbst die CSS besuchte und seit 2011 die Fächer Englisch und Ethik hier unterrichtet, kam seine ­Frau aus der freien Wirtschaft 2020 an die blista.

Vom Maschinenbau über Tagesmutter zur blista

„Ich arbeitete in der Elternzeit als Tagesmutter und merkte, dass die Arbeit mit Kindern sehr viel sinnstiftender ist als die mit Maschinen“, erzählt die studierte Maschinenbauerin. Ihr Wirkungsfeld an der blista könnte facettenreicher kaum sein: Den Klassenstufen 5–7 bringt sie die Grundlagen der PC-Arbeit bei, insbesondere den Umgang mit Hilfsmitteln wie einer Vergrößerungssoftware, der Braille-Zeile sowie einer Sprachausgabe. An der Fachoberschule in den Bereichen Sozialwesen und Gesundheit richtet sie den Fokus der PC-Arbeit auf das Thema „Bewerbungen“, und – im Abschlussjahr – auf das Projektmanagement. Zudem ist sie Klassenlehrerin einer „gemischten“ Berufsschulklasse, von der ein Teil eine IT-Ausbildung absolviert, der andere Teil Büromanagement erlernt. Darüber hinaus engagiert sie sich an der blista auch als Jugendmedienschutzberaterin.

„Herausfordernd finde ich vor allem die unterschiedlichen spezifischen Förderbedarfe innerhalb einer Lerngruppe“, berichtet Heike Flach. „Immer alle im Blick zu haben und allen das zu geben, was sie gerade brauchen, ist mitunter nicht ganz einfach. Ich werde da immer kreativer, aber bei jeder neuen Gruppe muss man wieder genau schauen.“

Heikes Familienleben sowie der tägliche Umgang mit den Schüler*innen an der blista hat ihren Blick auf blinde und sehbehinderte Menschen geschärft. „Seit ich Kinder und Jugendliche am PC unterrichte und das ja vor allem selbst lernen musste, habe ich noch mehr Respekt vor dem, was sie leisten“, erzählt sie.

Mit Sehbeeinträchtigung erfolgreich im Beruf

Für Jens – derzeit Klassenlehrer einer 10. Klasse an der CSS, Tutor einiger Schüler*innen seines Englisch-Leistungskurses in der Jahrgangsstufe 13 sowie Leiter des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeldes der Schule – stellen sich die Herausforderungen etwas anders dar: „Das Korrigieren von handschriftlich eingereichten Arbeiten, Begleiten von Ausflügen und Klassenfahrten oder selbst das Ausschneiden und Kleben von Unterrichtsmaterialien sind ohne Assistenz kaum oder gar nicht möglich.“

Als blinder Mensch im Beruf steht Jens eine Arbeitsassistenz zu, die ihn stundenweise unterstützt. Da er selbst täglich mit assistiver Technologie wie einer Screen-Reader-Software oder der Braille-Zeile arbeitet, mit dem Blindenlangstock geht, das Smartphone als Hilfsmittel nutzt und ganz allgemein seinen Alltag als blinder Mensch meistert, hat er längst ein Gefühl dafür, mit welchen besonderen Herausforderungen und zusätzlichen Lernfeldern Schüler*innen zu tun haben. „Ich hoffe, dass ich dadurch praktische Tipps geben und Lösungswege für Herausforderungen authentisch aufzeigen kann“, sagt er. „Darüber hinaus würde ich mich freuen, wenn mein Werdegang – zumindest für einige – ein Beispiel dafür ist, dass man trotz Sehbeeinträchtigung beruflich erfolgreich sein und privat ein erfülltes Leben führen kann. Aufgeben is‘ nicht!“

Die Arbeit mit ­Kindern ist sehr viel sinnstiftender als ­­die mit Maschinen.“

 Heike Flach

Vielfältige Angebote

Einer der Unterschiede zwischen der Arbeit an der CSS und der an einer Regelschule ist die Klassenstärke. Während Regelschulklassen nicht selten aus 20–30 Schüler*innen bestehen, sind die CSS-Klassen mit 8–12 Schüler*innen deutlich kleiner. Das reduziert zwar den Aufwand für die Durchsicht von Kontrollen und Klausuren, der Zeitaufwand für das methodische Ausgestalten von Unterrichtsinhalten sowie das Anfertigen von barrierefreien Unterrichtsmaterialien ist aber umso größer, da diese für jeden Schüler und jede Schülerin je nach spezifischer Arbeitstechnik gleichermaßen zugänglich sein müssen.

An der Carl-Strehl-Schule werden seit einigen Jahren auch Schüler*innen ohne Sehbeeinträchtigungen inklusiv beschult. „Wir praktizieren hier inklusives Lernen, das auf die Bedürfnisse aller Schüler*innen eingeht. Daher ist der Anteil der Schüler*innen ohne Beeinträchtigungen auf max. 50 % in den CSS-Klassen beschränkt“, erklärt Otfrid Altfeld, Leiter des Zentrum für berufliche Bildung (ZBB) und Ressortleiter „focus arbeit“. „Die an der Schule eingesetzten Medien und Modelle ermöglichen es allen Schüler*innen mit und ohne Seh- und Hör-Sehbeeinträchtigungen, gleichberechtigt und partizipativ zu lernen und mitzuarbeiten.“

Die Bildungswege an der blista in Marburg sind vielfältig. Neben dem Allgemeinen und Beruflichen Abitur, der Allgemeinen Fachhochschulreife mit Abschluss der Fachoberschule Sozialwesen sowie Gesundheit werden am ZBB auch eine Reihe von Ausbildungen und Umschulungen angeboten. Dazu zählen beispielsweise Fachinformatiker*in Anwendungsentwicklung sowie Systemintegration, ebenso Kaufmann/frau für E-Commerce sowie für Büromanagement. „Diese Angebote sind so ausgewählt, dass sie zum einen von einer aktuell guten Nachfrage nach Fachkräften am Arbeitsmarkt profitieren und zugleich auch für Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung hinsichtlich der Barrierefreiheit der Tätigkeiten gut geeignet sind“, so Otfrid Altfeld. „Im Fokus steht dabei jedoch immer das individuelle Interesse der Auszubildenden.“

Wirtschaftlich erfolgreich durch ­Diversität

Die Chancen für blista-Absolvent*innen auf dem Arbeitsmarkt haben sich in den letzten Jahren verbessert. Themen wie „Diversität“ und „Inklusion“ sind in größeren Unternehmen sowie in Start-ups inzwischen häufig gelebte Arbeitsphilosophie. Außerdem, so Otfrid Altfeld, haben diversere Unternehmen nachweislich einen größeren wirtschaftlichen Erfolg. Eine Erklärung dafür hat er auch: „Es mag an der besseren Motivation und Identifikation der Mitarbeitenden liegen, aber auch an Produktivprozessen, die von divers zusammengesetzten Teams qualitätvoller geplant und realisiert werden. Die zunehmend flexiblen und agilen Organisationsformen der Arbeit können Mitarbeitenden mit Blindheit oder Sehbehinderung eine produktivere Mitarbeit ermöglichen – auch wenn sie nicht selten besondere Herausforderungen mitbringen.“

Die Erfolge der blista können sich ebenfalls sehen lassen. So haben laut Altfeld seit Beginn der 2000er-Jahre durchschnittlich vier von fünf Absolvent*innen der Ausbildungen innerhalb eines halben Jahres nach dem beruflichen Abschluss einen ihrer Qualifikation entsprechenden Job gefunden.

Seit ich Kinder und ­Jugendliche am PC unterrichte, habe ich noch mehr Respekt vor dem, was sie leisten.“

Heike Flach

Profitabel für die blista und für ­Unternehmen

In der beruflichen Ausbildung ist neben einer fachlichen und personalen Kompetenz vor allem auch das Vermitteln einer Methodenkompetenz unerlässlich. „Hier ist die Umsetzung professioneller visueller Standards, die vor allem in der IT weit verbreitet sind, sehr wichtig, um die Voraussetzungen für die spätere Mitarbeit in Entwicklungsteams vorzubereiten“, erläutert Otfrid Altfeld. Im Rahmen der Ausbildungen werden Praktika durchgeführt, in denen die Auszubildenden Unternehmen und berufsnahe Tätigkeiten kennenlernen und einen ersten intensiven Kontakt zu potenziellen Arbeitgeber*innen aufbauen. In Bewerbungsverfahren werden die Auszubildenden durch Fachpersonal gesondert unterstützt, da „Bewerbungen vor dem Hintergrund einer bestehenden Sehbehinderung oder Blindheit komplexer sind und sich von Standardbewerbungen sehender Personen deutlich unterscheiden.“

Die blista kooperiert mit großen Firmen wie der Siemens Healthineers GmbH, der Deutschen Bank AG sowie der NRW.Bank. Diese Unternehmen nehmen die Schwerpunkte Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion sehr ernst, sodass am Ende beide Partner von der Zusammenarbeit profitieren. „Die Unternehmen erhalten Informationen und Unterstützung bei der Planung und Durchführung des Onboardings und der Zusammenarbeit mit den Betroffenen“, erklärt Otfrid Altfeld. „Wir bei der blista lernen zugleich viel über die Arbeitsorganisation in den Unternehmen und darüber, welche fachlichen und außerfachlichen Voraussetzungen nötig sind, um eine möglichst produktive Mitarbeit zu ermöglichen. Diese Erkenntnisse fließen dann in die Durchführung der von uns angebotenen Ausbildungen ein.“

Ich würde mich freuen, wenn mein Werdegang ein Beispiel dafür ist, dass man trotz Sehbeeinträchtigung beruflich erfolgreich sein und privat ein erfülltes Leben führen kann. Aufgeben is‘ nicht!“

Jens Flach

Die richtige Kompetenzförderung

Zu „Fachleuten der eigenen Beeinträchtigung“ möchte die blista ihre Absolvent*innen machen, um einerseits Kolleg*innen und Arbeitgeber*innen Handlungssicherheit zu bieten. „Andererseits“, so Altfeld, „ist es für uns wichtig, die Absolvent*innen auf die komplexe soziale – und visuell dominierte – Situation an einem Arbeitsplatz vorzubereiten. Wir setzen zudem immer den Fokus darauf, alle Perspektiven – die der Arbeitgeber*innen, die des Teams und die der/des betroffenen Mitarbeitenden – zu berücksichtigen, wenn wir spezielle Beratungs- und Coaching-Angebote realisieren.“

Ein vielversprechender Ansatz, den auch Jens Flach zu schätzen weiß: „Eine Förderschule bietet Schüler*innen mit Blindheit oder Sehbehinderung den Raum, den sie mitunter brauchen, um die Kompetenzen zu erwerben, die für die Teilhabe am öffentlichen Leben nach der Schule unerlässlich sind. Außerdem kann sie für einige ein Ort sein, an dem man persönlich wachsen kann, um die Stärke zu entwickeln, sich neuen Herausforderungen zu stellen.“ Jens Flach ist ein gutes Beispiel dafür, dass die blista ihn für das Leben gestärkt und den Weg für eine erfolgreiche Lehrerlaufbahn geebnet hat. Ein Gewinn, den er an seine Schüler*innen nun weitergibt.

Bild: Hannes Walz

1 Jens Flach besuchte ab der 9. Klasse selbst die CSS und unterrichtet hier seit 2011 die Fächer Englisch und Ethik, seine Frau Heike kam aus der freien Wirtschaft.
2 Eine Braille-Zeile ist ein wichtiges technisches Hilfsmittel ­für blinde und sehbehinderte Menschen. Es übersetzt Texte von Computern oder Smartphones in Brailleschrift und macht sie durch Berührung erlebbar.

Bild: Hannes Walz

2 Eine Braille-Zeile ist ein wichtiges technisches Hilfsmittel ­für blinde und sehbehinderte Menschen. Es übersetzt Texte von Computern oder Smartphones in Brailleschrift und macht sie durch Berührung erlebbar.

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.blista.de

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