Herr Speck, in einer Pressemitteilung des BLV Baden-Württemberg sagten Sie: „Leider muss ich feststellen, dass Bildungsgerechtigkeit für Schülerinnen und Schüler der beruflichen Schulen nicht zu gelten scheint.“ Was meinen Sie damit konkret?
Unseren Schülerinnen und Schülern stehen sehr häufig weniger Unterrichtstunden als an allgemeinbildenden Gymnasien zur Verfügung. Dazu kommt noch, dass viele von ihnen keine deutsche Staatsangehörigkeit haben und daher besonders in Deutsch mehr Förderung benötigen. Ich habe den Eindruck, dass man diesen Umstand gerade ignoriert und noch mehr Personal in das allgemeinbildende Gymnasium stecken möchte.
Nicht nur in Baden-Württemberg werden berufliche Bildungseinrichtungen aus Kostengründen geschlossen oder zusammengelegt. Sie fordern hingegen eine Standortsicherung für die beruflichen Schulen. Warum ist diese in Ihren Augen so wichtig?
Stirbt die Ausbildung in der Fläche, fallen auch die regionalen Arbeitsplätze weg. Baden-Württemberg kann sich das zum einen als Flächenland und zum anderen im Hinblick auf unsere Struktur mit vielen mittelständischen Betrieben nicht erlauben. Dies gefährdet unsere Wirtschaftskraft und damit unseren Wohlstand.
In Baden-Württemberg ist die Zahl der ungelernten Personen im Alter von 20 bis 35 Jahren von 2013 bis zum Jahr 2022 um gut 150.000 auf 379.000 angestiegen. Das Statistische Landesamt führt an, dass die Zunahme zeitlich mit einer starken Zuwanderung, auch von jungen Erwachsenen ohne Ausbildung, zusammenfällt. Welche Herausforderungen aber auch welche Chancen sehen Sie für die Arbeit der beruflichen Schulen angesichts dieser Entwicklung?
Ohne einen Abschluss heißt häufig auch ganz schnell ohne Arbeit. Daher müssen wir uns als Gesellschaft insgesamt einig sein, dass dies so nicht bleiben kann, sondern den gesellschaftlichen Frieden gefährdet. Dann gilt es zu verhindern, dass diese Entwicklung anhält und immer mehr junge Menschen ohne Abschluss dastehen. Dazu gilt es ein ganzes Maßnahmenpaket umzusetzen: Verbesserung der beruflichen Orientierung z. B. durch mehr Praktika und Reflexion der gemachten Erfahrungen und frühere sowie verbindliche Kooperationen zwischen beruflichen und allgemeinbildenden Schulen, flächendeckende Finanzierung von Praktikumsbegleitung, mehr Förderstunden bei Schulproblemen, Ausbau der Elternarbeit und und und. Ganz wichtig: bei den Kleinsten anfangen und bereits im Vorschulbereich verpflichtend mehr Deutschkenntnisse vermitteln sowie Ausbau der Abstimmung und Kooperation mit den Jobagenturen. Leider haben wir zu denjenigen, die ohne Ausbildung sind, häufig den Kontakt verloren. Den brauchen wir, dann können Maßnahmen ansetzen.
Mit dem BLV Baden-Württemberg haben Sie „5 Forderungen für eine Stärkung der beruflichen Bildung“ formuliert. Welches Thema ist für Sie dabei aktuell das dringlichste?
Ganz klar der Umgang mit der Heterogenität. Schüler mit Lernschwierigkeiten, Ungelernte und Geflüchtete müssen den Übergang in Ausbildung und Arbeit schaffen können. Hier müssen wir dringend ran, der Frust ist bei den jungen Menschen aber auch bei den Lehrkräften riesig. Gleichzeitig erlebe ich an den beruflichen Schulen und bei vielen Unternehmen eine sehr hohe Bereitschaft, gemeinsam die Situation der Jugendlichen zu verbessern. Hier muss der Fokus von Bildungspolitik liegen, dann werden wir auch schnell Verbesserungen sehen.
Die fünf zentralen Forderungen für eine nachhaltige Stärkung der beruflichen Bildung des BLV Baden- Württemberg:
- Standortsicherung für die berufliche Ausbildung und Stärkung der beruflichen Weiterbildung in Techniker und Fachschulen
- Ein klares Bekenntnis zum Erhalt der beruflichen Gymnasien und Angleichung der personellen Ressourcen auf das Niveau der allgemeinbildenden Gymnasien
- Langfristiges und nachhaltiges Förderprogramm für die beruflichen Schulen, sodass Schüler mit Lernschwierigkeiten, Ungelernte und Geflüchtete den Übergang in Ausbildung und Arbeit schaffen können
- Mehr zusätzliches Personal für Verwaltungsaufgaben, Entlastung von Lehrkräften und Schulleitungen, z. B. bei IT-Support, Schüler- und Gebäudeverwaltung, KI-Systeme als Unterrichts- und Prüfungsassistenz
- Attraktive Arbeitsbedingungen für mehr Lehrernachwuchs mit Lebensarbeitszeitkonten, moderner IT-Ausstattung, flexibler Teamarbeit

Thomas Speck
Vorstandsvorsitzender des Verbands
der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen
Schulen in Baden-Württemberg e. V.