Die berufliche Bildung verfügt über eigene Stärken. Gleichzeitig kann sie von konzeptionellen Ansätzen anderer Bildungsbereiche profitieren.
Die Kultusministerkonferenz und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung haben im Oktober 2025 ein bildungspolitisches Standardwerk vorgelegt: den „Orientierungsrahmen Globale Entwicklung — Bildung für nachhaltige Entwicklung in der gymnasialen Oberstufe“.
Auf rund 800 Seiten zeigt das Werk, wie Bildung für nachhaltige Entwicklung systematisch in der Sekundarstufe II verankert werden kann. Doch was hat ein Werk zur gymnasialen Oberstufe mit der beruflichen Bildung zu tun? Mehr als auf den ersten Blick ersichtlich — denn die Herausforderungen und Lösungsansätze betreffen alle Bildungsbereiche gleichermaßen.
Vier Dimensionen im Einklang
Der Orientierungsrahmen fußt auf einem ganzheitlichen Leitbild nachhaltiger Entwicklung, das vier zentrale Zieldimensionen miteinander verbindet: soziale Gerechtigkeit, ökologische Verträglichkeit, demokratische Politikgestaltung und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Dieses Verständnis ist hochaktuell und übertragbar — insbesondere auf die duale Ausbildung, die Wirtschaft und Gesellschaft von jeher zusammendenkt. Die berufliche Bildung kann hier an ihre ureigenen Stärken anknüpfen: praxisnah, lebensweltorientiert und mit direktem Bezug zur Arbeitswelt.
Dabei geht es nicht nur um ökologische Nachhaltigkeit im engeren Sinne. Der Orientierungsrahmen macht deutlich, dass nachhaltiges Handeln sich an den planetaren Grenzen orientieren und gleichzeitig die grundlegenden Bedürfnisse aller Menschen berücksichtigen muss. Für Ausbildungsbetriebe bedeutet dies: Green Skills sind nur ein Teil der Gleichung. Ebenso wichtig sind soziale Kompetenzen, demokratisches Bewusstsein und wirtschaftliches Verständnis — Fähigkeiten, die Auszubildende befähigen, Verantwortung zu übernehmen und zukunftsfähig zu handeln.
Was hat ein Werk zur gymnasialen Oberstufe mit der beruflichen Bildung zu tun? Mehr als auf den ersten Blick ersichtlich — denn die Herausforderungen und Lösungsansätze betreffen alle Bildungsbereiche gleichermaßen.“
Von der Theorie zur Praxis
Was den Orientierungsrahmen besonders wertvoll macht, ist seine Praxisnähe. Das Werk verbindet konzeptionelle Grundlagen mit konkreten Umsetzungshilfen: Didaktische Konzepte, Beispielthemen und Unterrichtsskizzen für unterschiedliche Fächer zeigen, wie Bildung für nachhaltige Entwicklung im Alltag funktionieren kann. Dieser Ansatz ist wegweisend — auch für die berufliche Bildung, die oft vor der Herausforderung steht, abstrakte Nachhaltigkeitsziele in konkrete Lernprozesse zu übersetzen.
Besonders interessant sind die Kapitel zur Digitalisierung und zum gesamtschulischen Ansatz, dem sogenannten Whole School Approach. Dieser ganzheitliche Blick ist übertragbar: Erfolgreiche Nachhaltigkeitsbildung in Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben funktioniert nur, wenn sie nicht als isoliertes Zusatzthema behandelt wird, sondern alle Bereiche durchdringt — von der Lernortkooperation über die Ausbildungsorganisation bis hin zur Unternehmenskultur.
Partizipation und Lösungsorientierung
Ein zentrales Anliegen des Orientierungsrahmens ist es, junge Menschen nicht mit Problemen zu überwältigen, sondern sie zu befähigen: Partizipation, lösungsorientiertes Denken und Handeln in einer demokratieförderlichen Lernkultur stehen im Mittelpunkt. Gerade in Zeiten, in denen Zukunftsängste und Falschinformationen zunehmen, ist dies essenziell. Bildung für nachhaltige Entwicklung macht resilient — sie vermittelt nicht nur Wissen, sondern auch Handlungsfähigkeit und positive Selbstkonzepte.
Für die berufliche Bildung bietet dies wertvolle Impulse. Auszubildende erleben täglich, wie ihre Arbeit konkrete Auswirkungen hat — auf Produkte, Dienstleistungen und Menschen. Diese unmittelbare Selbstwirksamkeitserfahrung ist ein enormes Potenzial. Wenn es gelingt, diese Erfahrungen mit globalem Bewusstsein zu verknüpfen, entsteht eine kraftvolle Verbindung: Junge Menschen verstehen sich als Gestalter*innen, die mit ihrem beruflichen Handeln einen Unterschied machen können.
(Quelle: Freepik — tohamina)
Zum ganzheitlichen Leitbild gehört auch: Green Skills sind nur ein Teil der Gleichung.
Gemeinsam mehr erreichen
Der Entstehungsprozess des Orientierungsrahmens ist bemerkenswert: 6 Jahre Arbeit, über 180 Fachleute aus Wissenschaft, Schulpraxis, Bildungsverwaltung und Zivilgesellschaft, ein öffentlicher Beteiligungsprozess mit mehr als 500 Institutionen und Einzelpersonen. Dieses Beispiel zeigt, wie wertvoll die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure ist — eine Erkenntnis, die auch für die berufliche Bildung zentral bleibt. Die duale Ausbildung lebt von Kooperationen: zwischen Betrieben und Berufsschulen, zwischen Branchen und Bildungsträgern, zwischen erfahrenen Ausbildenden und innovativen Newcomern. Wenn es um Nachhaltigkeit und globale Verantwortung geht, braucht es genau diese Partnerschaften — um voneinander zu lernen, Ressourcen zu teilen und gemeinsam neue Wege zu gehen.
Was bedeutet das für die Praxis?
Auch wenn der Orientierungsrahmen sich primär an die gymnasiale Oberstufe richtet, bietet er wichtige Anregungen für die berufliche Bildung. Drei Aspekte stechen besonders hervor:
Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte kein Zusatzthema sein, sondern ein grundlegendes Prinzip, das alle Lernbereiche durchzieht. In der Ausbildung bedeutet dies, Nachhaltigkeitsaspekte systematisch in Ausbildungsordnungen, Rahmenlehrpläne und betriebliche Curricula zu integrieren.
Die enge Verknüpfung von Bildung für nachhaltige Entwicklung mit politischer Bildung ist wegweisend. Demokratieförderung und Nachhaltigkeit gehören zusammen — gerade in einer Zeit, in der demokratische Werte unter Druck stehen. Berufsschulen und Ausbildungsbetriebe sind Orte gelebter Demokratie, in denen junge Menschen lernen, Verantwortung zu übernehmen und Prozesse mitzugestalten.
Die Lebenswelt junger Menschen muss im Mittelpunkt stehen. Der Orientierungsrahmen betont, dass erfolgreiche Bildung an den Erfahrungen, Interessen und Fragen der Lernenden anknüpft. Für die berufliche Bildung heißt dies: Nachhaltigkeit darf nicht abstrakt bleiben, sondern muss im konkreten beruflichen Handeln erlebbar werden.
Erfolgreiche Nachhaltigkeitsbildung in Berufsschulen und Ausbildungsbetrieben funktioniert nur, wenn sie alle Bereiche durchdringt.“
Ausblick: Voneinander lernen
Die Entwicklung des Orientierungsrahmens zeigt eindrucksvoll, wie bildungsbereichsübergreifendes Denken neue Perspektiven eröffnet. Die berufliche Bildung verfügt über eigene Stärken — ihre Praxisnähe, ihre Innovationskraft, ihre direkte Verbindung zur Arbeitswelt. Gleichzeitig kann sie von konzeptionellen Ansätzen anderer Bildungsbereiche profitieren. Die Zukunft gehört einer Bildungslandschaft, die durchlässig ist und voneinander lernt. Der neue Orientierungsrahmen ist ein Angebot zur Inspiration — nicht zur Übernahme eins zu eins, sondern als Impuls, eigene Wege zu finden. Wege, die zur beruflichen Bildung passen und ihre besonderen Möglichkeiten nutzen. Denn letztlich geht es um dasselbe Ziel: junge Menschen zu befähigen, die Welt von morgen verantwortungsvoll und kompetent mitzugestalten. Und das gelingt nur gemeinsam — über alle Bildungsbereiche hinweg.